Mittwoch, 9. Juni 2010

"Metal Matters" - Ein kulturwissenschaftliches Symposium zur Metal-Kultur an der HBK-Braunschweig

„Heavy Mäddel, nix im Schäddel“. Mit diesem Spruch versuchten die Poppergören in meiner Klasse Ende der 80er regelmäßig mich auf die Palme zu bringen. Heute wissen wir: Der Metal ist eine Wissenschaft für sich. Joey DeMaio, der (Quer)Kopf von Manowar, hat einen Doktortitel in Musical Arts, Brian May von Queen einen solchen in Astrophysik und Bands aus den progressiveren Sphären des Genres wie Rush oder Dream Theater sind durchaus in der Lage einen Song am musiktheoretischen Reisbrett zu entwerfen.
Dennoch: Würde in einer Erhebung die Frage gestellt, „was verbinden Sie mit dem Begriff ‚Heavy Metal’“, rangierten die Antworten „Aggression“, „übermäßigen Bierkonsum“, „Lärm“ oder gar „den Teufel“ sicherlich weit vor der Einschätzung „bedeutendes kulturelles Phänomen“.
Zu Unrecht: Beim Kongress „Metal Matters – Heavy Metal als Kultur und Welt“ am Institut für Medienforschung der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig (HBK) dis-kutierten von Donnerstag, 3. Juni, bis Samstag, 5.Juni, mehr als hundert Teilnehmer über das Thema Metal und seine Bedeutung.
Die Heavy-Metal- Kultur in all ihren Nuancen und Ausprägungen werde häufig nicht nur von Eltern und Erziehern als verstörend, ja schädlich wahrgenommen, sondern darüber hinaus von Wissenschaft und Kulturpolitik für bedeutungslos gehalten, meinen die Or-ganisatoren Professor Rolf F. Nohr von der HBK und Herbert Schwaab von der Uni Regensburg – beide während der 80er im Metal sozialisiert. „Es wird jede Menge Populärkulturforschung betrieben, in der oft auf den politischen Hintergrund von Jugendbewegungen abgestellt wird. Da es den beim Heavy-Metal nicht gibt, wird der oft als stumpf abgetan und links liegengelassen“, sagt Nohr. „Dabei haben wir es hier mit einem kulturellen Phänomen zu tun, dass sich schon über drei Generationen gehalten hat. Das muss beguckt werden.“
Das von Nohr identifizierte Klischee, beim Heavy-Metal sei „kulturwissenschaftlich nix zu holen“, wurde zweifelsfrei widerlegt: 20 Wissenschaftler aus ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz referierten – vor einer genreüblichen Wand aus Marshall-Verstärkern – zu Fankultur, Ästhetik, Ökonomie und Politik des Heavy-Metal. Julia Eckel sprach über die „textile Identifizierbarkeit“ von Metal-Anhängern durch die typischen mit Bandaufnähern gespickten „Kutten“ genannten Jeans-Jacken und Band-Shirts, in de-ren Ikonographie archaisch-vormoderne und Science-Fiction-Welten verschmelzen. Christian Krumm, Holger Schmenk und Franz Horváth beleuchteten die Entstehung bedeutender regionaler Metal-Szenen im Ruhrgebiet oder Ungarn während der 80er Jahre. Tobias Winnerling stellte die verbindlichen formalen Codes für Bewohner des Metal-Universums vor.
Wie frisch und Unverbraucht der Metal auch im ungefähr 42sten Jahr nach seiner Entstehung noch ist – Je nach dem, ob man das 1968er Album von Blue Cheer „Vincebus Erupttum“ oder das Black Sabbath-Debut von 1970 mit ihrem bis dato in nie gehörter Wucht und Lautstärke vorgetragenem Amalgam aus Blues- und Psychedelic-Rock als erstes Lebenszeichen werten will – zwischen Harz und Heide ist, zeigte das Rahmenprogramm: Am Freitag spielten die Braunschweiger Bands Damn und Headshot in einer Innenstadt-Bar absolut erstligatauglichen Thrash- und Death-Metal. Eine Ausstellung in der HBK präsentierte Fanportraits von Stefanie Krause. Johannes Giering machte mit seinen Bildern die Stimmung auf Metal-Festivals erfahrbar und Frank Tobian zeigte Live-Fotos von Musikern.
„Wir sind mit der Veranstaltung sehr zufrieden“, sagt Herbert Schwaab. „Es waren nicht nur Wissenschaftler da, die ausdrücklich über Heavy-Metal arbeiten, sondern auch sol-che, die die Gelegenheit genutzt haben, sich endlich einmal wissenschaftlich mit ihrer Lieblingsmusik auseinanderzusetzen. Auch die Resonanz aus der Szene war gut.“ Quod erat demonstrandum: Metal matters.

Mittwoch, 2. Juni 2010

Kiss, 31.5., O2 World Hamburg

Das ist der Traum jedes Rockjournalisten: Noch einmal das berauschende Gefühl der musikalischen Defloration erleben. Noch einmal im Plattenladen stehen und über Kopfhörer die ersten Tackte Rock N´Roll hören. Noch einmal den magischen Moment der ersten Liveshow erleben, wenn die Saallichter aus- und die Scheinwerfer angehen, und zu wissen: Das ist mein Ding.
Ein Zug, der vor zwanzig Jahren abgefahren ist, lässt sich nur schwer einhohlen. Deshalb folgende Versuchsanordnung: Ein Rock-Novize wird den genannten noch unbekannten Reizen ausgesetzt und seine Reaktion studiert. Und welche Band wäre für dieses Experiment besser geeignet als die Meister des beidseitigen Kerzeanzündens: Kiss.
Proband ist eine Zeitungskollegin, diplomierte Kulturwissenschaftlerin und kunstbeflissen. Des öfteren nahm sie mich schon mit zu kulturellen Veranstaltungen, zuletzt Geschlossene Gesellschaft von Sartre — als Tanztheater. In der O2 World Hamburg spielt bei Ankunft gerade die Vorband Five and The Red One. Die fünf Ulmer zocken ansprechenden frühneunziger Alternativerock, wirken dabei aber so harmlos wie Gymnasiasten auf dem Raucherhof. Urteil der Kollegin: „Die Bühnenperformance ja lustig.“ Das Todesurteil für jede Rockband.
Schluss mit Lustig ist, als Kiss um kurz vor neun loslegen. Der riesige schwarze Vorhang mit dem Bandlogo fällt. In gleißendem Licht schweben Gene Simmons, Tommy Thayer und Paul Stanley vor glitzerndem Strass und schimmernden Nieten starrend, die Gesichter wie Samurai-Dämonen geschminkt, gitarrespielend mittels Hydraulik über Eric Singers Schlagzeug hinweg auf die riesige Bühne. Die Kollegin schaut ungläubig-fasziniert.
Schon beim vierten Song „Firehouse zieht Simmons seine Feuerspucknummer ab. Eine rote Stichflamme stößt aus seinem Rachen. „Besser als Tanztheater, oder?“ „Anders, aber auch gut“, lautet die Antwort.
Unwissenheit beugt Enttäuschungen vor: Beim faustharten „Deuce“ wird der schneidende Gitarrensound von Urgitarrist Ace Frehley schmerzlich vermisst — obwohl Thayer der bessere Musiker ist. Die Kollegin vermisst gar nichts: „Ace wer?“ Im Gegensatz zum Nachbarn stört sie sich auch nicht am AC/DC-T-Shirt eines jungen Konzertbesuchers – noch vor zwanzig Jahren wäre dieser Fauxpas eine sichere Methode gewesen, sich zwei blaue Augen einzufangen, aber dieser Zug ist…, ach sie wissen schon. Auch als Eric Singer es wagt "Beth", den Erkennungsson seines Vorgängers Peter Criss, anzustimmen, empört sie sich nicht.
Aber auch als Kiss das erste mal seit der Hot In The Shades Tour 1990 – es war die letzte mit Schlagzeuger Eric „The Fox“ Carr – „Lick it Up“ anstimmen ist sie nur bedingt bewegt.
Die Kollegin interessiert sich weit mehr für Sänger Paul Stanley (58), der sich unermüdlich mit den Händen durchs auftoupierte schwarze Haar fährt, die Lippen schürzt und sich in Obszöne Posen wirft - Stanley verfügt vermutlich über ähnlich viele Variationen mit dem Po zu wackeln, wie die Eskimos über Worte für Schnee. „Unverschämt, aber freundlich und sehr selbstbewusst“, lautet das weibliche Urteil. Besondere Freude kommt gegen Ende des Konzerts auf, als Stanley mit einer Seilbahn auf eine kleine runde Bühne in der Hallenmitte fährt – „Hihi, guck mal, die dreht sich auch noch“ – und „I Was Made For Lovin’ You“ singt: „Das kenne ich sogar“. Als Stanley über unsere Köpfe zurückfliegt, treffen ihn einige Bierbecher. Sie prallen ein seiner behaarten, noch immer muskulösen Brust ab. Stanley ballt die Faust und eine weitere Salve Böller geht hoch. Schon komisch was manche Frauen so unter Freundlichkeit verstehen. Beim Konfettiregen zum Rausschmeißer „Rock And Roll All Nite“ kommt gar Rührung auf: „Oh wie schön“, sagt sie, während Papierschnipsel wie Rosenblätter vom Himmel auf ihr schweißglänzendes Gesicht herabregnen. Sie strahlt: „Das war suuuuper.“ Defloration abgeschlossen, Experiment geglückt.
Die nächste Eskalationsstufe werden am 4. Juli die Brutalo-Death-Metaler Deicide in der Meier Music Hall sein. Mal schauen was die Kollegin dazu sagt. Aber zunächst steht „Die Möwe“ von Tschechow inszeniert von Jürgen Gossch auf dem kulturellen Austauschplan. Mal gucken ob´s mir beim ersten Mal weh tut.