Freitag, 17. April 2015

Der Mensch als Kronkorken der Schöpfung - Deichkind live

Die nächste Stufe der Evolution? -Deichkind.  Foto:Deichkind
Deichkind haben Verspätung. Oder besser gesagt das Publikum. Obwohl die Veranstalter wegen des Andrangs die Türen der Schwarzwaldhalle in Karlsruhe am Mittwoch schon eine Stunde früher als geplant geöffnet haben, schlängelt sich die Schlange der auf Einlass Wartenden – viele tragen Pyramiden aus Alufolie auf dem Kopf, das Symbol der Band – noch kurz vor dem anberaumten  Konzertbeginn um 20 Uhr weiterhin über den Festplatz. Drinnen laufen bei schwüler Hitze auf der Großbildleinwand schrullige, nippelistische südostasiatische Dance-Videos und solche von MC Hammer – Die Älteren erinnern sich vielleicht: Das war der mit den Hosen.
„Vielleicht ist das bei denen so wie bei Kraftwerk. Die kommen gar nicht in echt und das ist schon die Show“, beginnen sich die Ersten zu fragen, nachdem fast eine halbe Stunde ins Land gegangen ist. Doch dann wird ein Film eingespielt: Zum Klang apokalyptischer Posaunen zoomt die Kamera aus den Weiten des Weltalls auf den blauen Planeten und überfliegt die Wunder der Erde, Wüsten, Seen, Feuer speiende Vulkane, tosende Wasserfälle und dergleichen. Dann umkreist sie menschengemachte Wunder, die Pyramiden, Stonehenge. Schließlich werden auch die Deichkind-Musiker gezeigt, auf der Bühne, auf Tour, in unterschiedlichen Stadien der Entkleidung und des Rausches. Der Mensch als Kronkorken der Schöpfung.
Auf dem Vorhang zeichnen sich nun die Schattenrisse von Obelisken ab, ähnlich dem in Stanley Kubricks „2001: A Space Odyssey“. Manche sagen, bei dem schwarzen Gebilde habe es sich um eine Art Aufklärungssonde einer außerirdischen Superintelligenz gehandelt, zusätzlich ausgestattet mit der Fähigkeit, evolutionäre Entwicklungen anzustoßen. Die Szene, in welcher der Alpha-Hominide den Knochen als Waffe und Machtmittel entdeckt, kennt jeder. Werden uns nun Deichkind die nächste Stufe der Evolution erklimmen helfen?
„Denken Sie Groß“ performen Deichkind jedenfalls gleich als zweiten Song, eine Reminiszenz an den Zeitgeist, der nach stetiger (Selbst)Optimierung verlangt. Dabei tragen die Musiker statt der sonst üblichen LED-beleuchteten Pyramiden bizarr überdimensionierte Gehirne auf dem Kopf. Der Song kommt direkt nach dem erwartbaren Konzert-Opener „So'ne Musik“. Der Hymne für alle Feierwütigen vom aktuellen sechsten Album „Niveau Weshalb Warum“. In diese Abfolge ließen sich wahrscheinlich auch die Prioritäten der Hamburger zusammenfassen: Feiern ja, aber bitte auch mal das Hirn einschalten und die gesellschaftlichen Gegebenheiten hinterfragen. Party und in Werbeslogans gekleidete Gesellschaftskritik gehen hier Hand in Hand: Titel wie „Leider Geil“, „Arbeit Nervt“, „Like Mich Am Arsch“ und „Remmidemmi (Yippie Yippie Yeah)“ feiern Burger, Bier und Medienkonsum genauso wie sie die Auswüchse des realexistierenden Digitalismus scharfzüngig ins Visier nehmen.
Die Musik wechselt zwischen Kirmes-Techno, poppigen House und ordentlich groovendem Hip-Hop, der das mutmaßlich von in den frühen 80ern von Motörhead und AC/DC verursachten Haarrissen durchzogene Hallendach gefährlich in Schwingung  versetzt. Das erstaunlich heterogene Publikum, das Ringelpullimädchen wie schwarzgekleidete Männer mit langen Haaren umfasst, ebenso.
Die Show sieht aus, als hätten ein paar zwölfjährige die feuchten Träume ihrer letzten Pyjamaparty verwirklicht: Vor der Kulisse eines gutes Dutzend beweglicher Obelisken (mal wandern sie im Kreis, mal seitwärts, mal formen sie eine Skyline) fahren Philipp Grütering, Sebastian Dürre und Sascha Reimann alias Kryptik Joe, Porky und Ferris Hilton in wechselnden Kostümen mit dem Seniorenscooter über die Bühne, machen eine Polonaise durchs Publikum oder lassen sich mit dem Schlauchboot über die Köpfe der 5.000 tragen. Nein, es bleibt kein Zweifel, Deichkind sind keine Menschmaschinen, sondern Hedonisten von echtem Schrot und Korn.
Trotz all des anarchistischen Blödsinns wirkt die Darbietung dann aber doch sehr durchorganisiert und lässt wenig Raum für Spontaneität. Vielleicht ist das den Anforderungen einer aufwendigen Bühnenproduktion geschuldet. Viellleicht ist an der in populären Thrillern verbreiteten und von Verschwörungstheoretikern gierig aufgegriffenen Idee, die spitzwinkelige Pyramide verweise auf die rückwärts gerichteten Machenschaften illiberaler Geheimbünde, am Ende aber doch was dran. Dann singen Deichkind vielleicht nur vorneherum so antireaktionär. Und in unseren Gehirnen dreht sich das aber alles um. Zur Freude von Google und der NSA. Eine erschreckende Vorstellung!

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