Mittwoch, 23. September 2015

Stimmtest "Coreprobe" - Miezekätzchen oder wütender Ork?


Beschwerden gab es zwar nicht. Wegen meiner Tätigkeit als Musikjournalist sind meine Nachbarn leidgewohnt. Über die teils unmenschlichen Geräusche, die während der vergangenen Tage aus meinem Arbeitszimmer drangen, dürften sie sich vermutlich aber doch  gewundert haben. Grund für die Kakophonie war meine Versuchsreihe mit dem Online-Stimmtest „Coreprobe“. Der User kann damit testen, was seine Stimmbänder hergeben.
Mikro am Rechner einschalten, reinbrüllen und den Ton zwei Sekunden lang halten, lautet die Anleitung. Also los: Zum warm werden versuche ich es im Schongang und intoniere den Johnny Cash Klassiker „Cocaine blues“. Das T-Bone-Mikrophon auf dem Bildschirm beginnt zu vibrieren, dann zu rauchen und geht schließlich mit lautem grollen in einer roten Feuerwolke auf. Wau!
Auf der bis 160 reichenden Messskala am unteren Bildschirmrand pendelt sich gleichzeitig der Zeiger beim Wert 40 ein. Kein berauschender Stimmkraftwert. Zusätzlich gibt es aber noch eine bildsprachliche Bewertung wie beim „Hau den Lukas“ auf dem Rummel. Da komme ich auf „Alphorn“. Immerhin nicht gerade als leises Instrument bekannt.
Mit dem Refrain von „Anarchy in the UK steige ich um auf etwas höhere Lagen, gebe mehr Druck aufs Zwerchfell und pushe den Zeiger hoch auf 90: „Katzenbaby“. Hat die Maschine ´ne Macke? „Vermutlich ist ein Katzenbaby gemeint, das Sid Vicious gerade am Schwanz packt und über seinem stacheligen Kopf schwingt“, sage ich mir. Ja, so muss es sein.
Ich ändere meine Taktik und experimentiere mit Chris Reifert-mäßigen Growls und ende – wieder als Katzenbaby. Hmpf! Auf gutturalem Wege komme ich hier offensichtlich nicht weiter. Also versuche ich es mit einem verzweifelten so lang gezogenen wie durchdringenden Hair-Metal-Ära-Whitesnake-Still-of-the-night-Schrei. Und siehe da (obwohl ich wieder nicht über 90 hinauskomme): „Darth Vader“. Zweifelsohne ein Schritt nach oben auf der Metal-Skala. Andererseits erscheinen die Bewertungen von Coreprobe somit etwas willkürlich, der Sith Lord trumpft ja eigentlich eher selten mit seinem Sopran auf. (Seine Version von "Bohemian Rhapsody" hat das  mehr als deutlich gezeigt.)
Jetzt stimme ich KSC-Fangesänge an und erreiche damit den respektablen Wert von 60: „Bruce Springsteen“. Dass er „Boss“ ist, kann mein Herzensverein im Moment leider nicht von sich behaupten.
Zum Schluss gebe ich mit unverfälschter Stimme nochmal alles und jage die Tachonadel auf 120 hoch: „Wütender Ork“. Na also, geht doch.
Die Coreprobe ist Bestandteil der Website Knaben-Core. Auf der gibt es noch andere Growl-Spielereien. Hinter der Aktion stehen GeloRevoice Halstabletten von Pohl-Boskamp.

Donnerstag, 10. September 2015

Fast wie beim Zahnarzt - Reverend Shine Snake Oil Company

Nein, das ist kein hundsgewöhnliches Konzert – und das von Anfang an. Oder wie viele Shows habt ihr schon gesehen, bei denen der Gitarrist zur Einstimmung erst einmal einige Minuten Zahnseide zwischen den Saiten seines Instruments hindurchzieht? Eben! Das soll jetzt nicht heißen, dass Auftritte der Reverend Shine Snake Oil Company über diese Soundspielerei (es klingt ein wenig, als würde man mit dem Plektron die Saiten entlangstreifen, nur, öhm, faseriger) hinaus viel mit einem Zahnarztbesuch gemein hätten – gewiss nicht. Was Frontmann Claudius Pratt und seine ölige Gesellschaft an diesem Donnerstagabend, 3. September,  in der Alten Hackerei darbieten, hat viel mehr den Charakter Happenings. So hätten es zumindest unsere Vorfahren in den lysergsäuregetränkten 60er Jahren bezeichnet.
Männer spielen Musik. Sie tragen schwarze Anzüge und Bärte und sehen so eher aus wie Halsabschneider denn als Musiker (oder Musiker aus einer Zeit, in der das noch ein und dasselbe war).  Auch die Musik ist schwarz, tiefschwarz: Blues, Soul, Dark Jazz. Roots Musik, die in psychedelischer Formlosigkeit aufgeht. Die Soundtracks von Nick Cave und Warren Ellis kommen in den Sinn. Erstaunlich, welche Wucht die Band mit zwar verstärkten, aber nicht elektrifirzierten Instrumenten wie Stehbass und Westerngitarre entfaltet.
Da den Arrangements bis auf ein gelegentliche repetitive Riffs, Licks oder Grooves weitgehend die Strukturen fehlen, käme beim Zuhören aber wohl doch irgendwann strapaziöses Dentalpraxen-Feeling auf, wäre da nicht Claudius Pratt, der Angeryman, der Reverend, der mit goldberingten Händen mysteriöse Heilmittel für allerlei moderne Beschwerden anbietet. Ganz zuvorderst Langeweile.
Gesanglich gibt der in Dänemark lebende Exil-New-Yorker so eine Art Afro Srceaming Lord Sutch. Seine Körpersprache wechselt zwischen Soul-Man, Baptistenprediger und Vodoo-Priester: Booty shaking, Armerudern, Körperzucken, Augenrollen. Schweißtreibend, hemmungslos, intensiv, hypnotisch. Klarer Fall: Dieser Reverend lebt nicht zölibatär, in seinem Gesangbuch sind Bilder von nackten Weibern, seine Messen feiert er um Mitternacht, sein Taufbecken ist voller Whiskey, sein Weihrauch stinkt nach Schwefel und sein Chrisam ist aus Schlangenfett. Kurz: Seine Kirche ist „on the wrong side of town“. Und jeden verdammten Augenblick rechnet man damit, dass Frauen ihre Brüste entblößen, Vipern durch die Reihen gereicht werden wie in den Hinterwäldler-Pfingstgemeinden der Appalachen oder der Reverend zumindest eine schwarze Katze am Schwanz über seinem Kopf kreisen lässt.
Am Ende fehlt bei aller Emotionalität aber dann vielleicht doch der Schuss Pop-Appeal, auf den selbst die alten Bluesmänner immer so penibel geachtet haben. Dass Pratt und Company auch Songs schreiben können, blitzt mitunter auf in dem ganzen verschwitzten Budenzauber. Zum Beispiel beim Rausschmeißer „Farewell All Good People“, einer sensiblen Gospel-Ballade. Ein paar mehr solche Ohrwürmer und diese Band wäre nicht mehr zu stoppen.  Trotzdem: ein Erlebnis.