Donnerstag, 16. April 2015

Geh mir weg mit deiner Herzscheiße - André Eisermann liest Die Leiden des jungen Werther

Er lese hier gegen die allgemeine Verblödung an, sagt André Eisermann nach seiner Lesung aus „Die Leiden des jungen Werther“ am Samstagabend im Staatstheater. Trotz widriger, von Prekariatsfernsehen beherrschten Zeiten, gelinge es ihm oft, gerade junge Leute mit diesem doch schon 240 Jahre alten Text zu begeistern. Denn immerhin sei Johann Wolfgang von Goethe, als er seinen Erstlingsroman verfasste, auch „erst ein Junge von 21 Jahren gewesen“. Das gibt zu denken! In diesem Alter wäre Goethe heute ein „Digital Native“. Aufgewachsen mit Smartphone und Tablett-Computer statt Tintenfass und  Federkiel, teilte der jugendliche Dichter-Nerd seine stürmischen Gefühlsaufwallungen womöglich mittels regelmäßigem Podcast mit seinen Facebook-Freunden und versorgte seine zahlreichen Follower auf Twitter mit drangvollen Vierzeilern. Angesichts der anhaltenden Begeisterung junger Leser für liebestrunkene Blutsauger und BDSM-besessene Milliardäre wäre dem Goethe 2.0 sicherlich ähnlicher Erfolg beschieden wie 1774. Damals machte sein Roman um einen unglücklich verliebten Rechtspraktikanten zum Popstar: Junge Männer kleideten sich wie das suizidale literarische Vorbild mit blauem Sacco und gelber Weste, man trank seinen Tee aus Werther-Sammeltassen und angeblich gab es sogar den einen oder anderen  Werther inspirierten Selbstmord.
Heute allerdings, so stellte André Eisermann nach einer spontanen Publikumsbefragung fest, hatte sich unter die vielen „Silverkids“ – so pflegen pfiffige Werbestrategen ältere Leute heute zu bezeichnen  –  gerade mal ein einziger Schüler gemischt. Das mag man beklagen. Denn natürlich hat der spätere Natur- und Menschenwissenschaftler Goethe schon als junger Mann großartige bildreiche Darstellungen der Tier- und Pflanzenwelt sowie scharfsichtige Schilderungen gesellschaftlicher und zwischenmenschlicher Verhältnisse geschrieben. Ebenso natürlich ist André Eisermann ein hervorragender Vertreter seines Faches. Und natürlich ist sein leidenschaftlicher  Vortrag immer eindringlich, stellenweise auch humorvoll und gelegentlich sogar anrührend. Aber um diesem Werther zu fühlen oder ihn gar zu mögen, dazu gehört schon die Empathie der ganzen Grünen Bundestagsfraktion.
Solche überspannten Typen kennt man, die einem in der Stammbar mit ihren Seelenblähungen regelmäßig das Bier sauer werden lassen, weil sie gerade von ihrer ganz großen Liebe verlassen worden sind – mal wieder. „Geh mir weg mit Deiner Herzscheiße!“, denkt man mit Funny van Dannen und guckt verständnisvoll drein. Aber auch nicht zu verständnisvoll. Denn schließlich soll der Schmachtende in seiner geschwätzigen überkandidelten Schwärmerei nicht noch bestärkt werden. Sonst hört der gar nicht mehr auf mit seinem pathetischen Gejammer. Er fließt ja ohnehin schon über vor Selbstmitleid. Wie ein Glas milchig trüben Pernods, in das die Bedienung versehentlich zu viel Wasser gegossen hat. Am Kragen möchte man ihn packen und ihn anbrüllen: „Sei ein Mann!“ Und gerade wenn er sich endlich genug ausgeheult hat und man endlich zur Tagesordnung zurückkehren könnte, kommt sie in die Bar. Die Ex. Diese Co-Abhängige Lotte, die sich zwischen Beschützerrolle und Anklage nicht entscheiden kann. Und das ganze Theater geht wieder von vorne los.  Um es in Abwandlung der Worte Werthers über seinen Konkurrenten Albert zu sagen: „Werther, in diesem Name steckt eine ganze Hölle“. André Eisermann hat sie mit wortgewalt heraufbeschworen.

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