Heute
allerdings, so stellte André Eisermann nach einer spontanen
Publikumsbefragung fest, hatte sich unter die vielen „Silverkids“ – so
pflegen pfiffige Werbestrategen ältere Leute
heute zu bezeichnen – gerade mal ein einziger Schüler gemischt. Das
mag man beklagen. Denn natürlich hat der spätere Natur- und
Menschenwissenschaftler Goethe schon als junger Mann großartige
bildreiche Darstellungen der Tier- und Pflanzenwelt sowie scharfsichtige
Schilderungen gesellschaftlicher und zwischenmenschlicher Verhältnisse
geschrieben. Ebenso natürlich ist André Eisermann ein hervorragender
Vertreter seines Faches. Und natürlich ist sein leidenschaftlicher
Vortrag immer eindringlich, stellenweise auch humorvoll
und gelegentlich sogar anrührend. Aber um diesem Werther zu fühlen oder
ihn gar zu mögen, dazu gehört schon die Empathie der ganzen Grünen
Bundestagsfraktion.
Solche
überspannten Typen kennt man, die einem in der Stammbar mit ihren
Seelenblähungen regelmäßig das Bier sauer werden lassen, weil sie gerade
von ihrer ganz großen Liebe verlassen
worden sind – mal wieder. „Geh mir weg mit Deiner Herzscheiße!“,
denkt man mit Funny van Dannen und guckt verständnisvoll drein. Aber auch nicht zu
verständnisvoll. Denn schließlich soll der Schmachtende in seiner
geschwätzigen überkandidelten Schwärmerei nicht noch bestärkt
werden. Sonst hört der gar nicht mehr auf mit seinem pathetischen
Gejammer. Er fließt ja ohnehin schon über vor Selbstmitleid. Wie ein
Glas milchig trüben Pernods, in das die Bedienung versehentlich zu viel
Wasser gegossen hat. Am Kragen möchte man ihn packen
und ihn anbrüllen: „Sei ein Mann!“ Und gerade wenn er sich endlich
genug ausgeheult hat und man endlich zur Tagesordnung zurückkehren
könnte, kommt sie in die Bar. Die Ex. Diese Co-Abhängige Lotte, die sich
zwischen Beschützerrolle und Anklage nicht entscheiden
kann. Und das ganze Theater geht wieder von vorne los. Um es in
Abwandlung der Worte Werthers über seinen Konkurrenten Albert zu sagen:
„Werther, in diesem Name steckt eine ganze Hölle“. André Eisermann hat
sie mit wortgewalt heraufbeschworen.Donnerstag, 16. April 2015
Geh mir weg mit deiner Herzscheiße - André Eisermann liest Die Leiden des jungen Werther
Er
lese hier gegen die allgemeine Verblödung an, sagt André Eisermann nach
seiner Lesung aus „Die Leiden des jungen Werther“ am Samstagabend im
Staatstheater.
Trotz widriger, von Prekariatsfernsehen beherrschten Zeiten, gelinge es
ihm oft, gerade junge Leute mit diesem doch schon 240 Jahre alten Text
zu begeistern. Denn immerhin sei Johann Wolfgang von Goethe, als er
seinen Erstlingsroman verfasste, auch „erst ein
Junge von 21 Jahren gewesen“. Das gibt zu denken! In diesem Alter wäre
Goethe heute ein „Digital Native“. Aufgewachsen mit
Smartphone und Tablett-Computer statt Tintenfass und Federkiel, teilte
der jugendliche Dichter-Nerd seine stürmischen Gefühlsaufwallungen
womöglich mittels regelmäßigem Podcast mit seinen Facebook-Freunden und
versorgte seine zahlreichen Follower auf Twitter mit drangvollen Vierzeilern. Angesichts der anhaltenden
Begeisterung junger Leser für liebestrunkene Blutsauger und
BDSM-besessene
Milliardäre wäre dem Goethe 2.0 sicherlich ähnlicher Erfolg beschieden
wie 1774. Damals machte sein Roman um einen unglücklich verliebten
Rechtspraktikanten zum Popstar: Junge Männer kleideten sich wie das
suizidale literarische Vorbild mit blauem Sacco und
gelber Weste, man trank seinen Tee aus Werther-Sammeltassen und
angeblich gab es sogar den einen oder anderen Werther inspirierten
Selbstmord.
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