Freitag, 14. August 2015

Vom Zeitgeist beseelt - Saltatio Mortis veröffentlichen "Zirkus Zeitgeist"

In der – mutmaßlich scheibenförmigen – Welt des chartstürmenden Mittelalter-Rock herrschen so viele Klischees wie wohl sonst nur in den Sphären des deutschen Schlagers. Nur dass die Männer hier Bärenfell statt Krachlederne tragen und die Frauen wallende Gewänder statt Dirndl und statt dem „Glaserl Wein“ Met der Marke Drachenblut die durstigen Kehlen hinabrinnt. Saltatio Mortis (SM) aus Karlsruhe sind neben In Extremo oder Schandmaul eine der erfolgreichsten Bands des Genres, das moderne Rockmusik mit historischen Instrumenten wie Dudelsack, Sackpfeife und Schalmei orchestriert. Mit Ihrem Album “Das schwarze Einmal Eins“ landeten die badischen Totentänzer 2013 auf Platz 1 der deutschen Charts. Am heutigen Freitag, 14. August, erscheint mit „Zirkus Zeitgeist“ der Nachfolger. Mittelalter-Kitsch sucht man auf dem zehnten Studiowerk des Oktetts weitgehend vergeblich. Vielmehr betreiben SM entschiedene Gesellschafts- und Konsumkritik. Die vor allem eines ist: aktuell.
„Wir wollten es den Spielleuten vergangener Jahrhunderte gleichtun und der Gesellschaft, in der wir leben, einen Spiegel vorhalten“, sagt SM-Schlagzeuger Lasterbalk der Lästerliche, der auch als Haupttexter und Ensemble-Leiter fungiert. Der Name, den sich der 43-Jährige bei der Bandgründung im Jahr 2000 für seine Bühnenpersönlichkeit gewählt hatte, erweist sich nun als programmatisch: "Lasterbalk war ein Spielmann, der in ziemlich allen Reichsstätten wegen Gotteslästerei, Häresie und Rede wider die Obrigkeit gesucht wurde“, erzählt er.   
Was für ein Zirkus: Saltatio Mortis.   Foto: Robert Eikelpoth
„Wir haben auch als Straßenmusiker mit Maultrommel und Dudelsack angefangen und ganz klassisch auf den Mittelaltermärkten der Jahrtausendwende gespielt“, berichtet Lasterbalk von den bescheidenen Anfängen von SM. Während denen, „ich manchen Winter ohne die Hilfe einer Freundin, die mich durchgefüttert hat, nicht überstanden hätte“. Später habe man mit Gothic-Elementen und Synthesizern experimentiert und sei schließlich bei „Rock´n´Roll mit Dudelsäcken“ gelandet, beschreibt er die musikalische Entwicklung der Band. Inzwischen können die Musiker dank der immer größeren Konzerte von ihrem Beruf leben. „Wir versuchen aber immer noch sehr stark mit dem historischen Instrumentarium zu arbeiten. Das unterscheidet uns vielleicht ein wenig von anderen Kollegen“, verweist Lasterbalk auf den zunehmenden Verzicht auf Sackpfeife und Drehleier bei Stars der Szene wie In Extremo oder Subway to Sally.
 Aber: „Die Texte sind moderner geworden und die Aussagen verstecken sich weniger hinter Metaphern“, greift Lasterbalk die für ihn gravierendsten Neuerungen auf „Zirkus Zeitgeist“ gegenüber seinen Vorgängern heraus. Tatsächlich bieten Songtitel wie „Geradeaus“, „Nachts weinen die Soldaten“ oder „Des Bänkers neue Kleider“ kaum Anknüpfungspunkte für die Tagträumereien von nach Mittelalterromantik lechzenden Wochenend-Zeitreisenden wie sie die Mittelaltermärkte und andere populäre pseudohistorische Events bevölkern. Allein der „Rattenfänger“ verweist noch auf die Welt der Mythen und Märchen. „Und auch dieser Titel lässt sich als Allegorie auf politische Rattenfänger verstehen“, stellt Lasterbalk klar.
 Für ihn ist die Abkehr vom mittelalterlich anmutenden Duktus keine Abwendung von den Wurzeln der Band. „Wir verstehen uns als Spielleute der Moderne. Und wenn ich mir anschaue, was die Kollegen vor fünfhundert Jahren auf den Straßen und Marktplätzen getrieben haben, wurde dort auch nicht in Latein oder Griechisch gesungen, sondern in der Sprache der Leute. Deswegen wollen auch wir deutliche Worte sprechen.“ Und als studierter Betriebswirtschaftler kommt Lasterbalk zu dem klaren Schluss: „Bei uns läuft etwas nicht richtig!“ Deutschland sei eines der reichsten Länder der Welt, befinde sich aber im „Würgegriff der Neokons“. „Ich verstehe nicht, warum bei uns im Winter Leute auf der Parkbank erfrieren. Ich verstehe nicht, warum wir Flüchtlinge nicht aufnehmen können. Ich verstehe nicht, warum die Reichen reicher werden, die Armen ärmer und keiner etwas tut.“
 Ihr loses Mundwerk hat den Karlsruher Totentänzern schon herbe Kritik eingebracht – von unerwarteter Seite. Für ihr Nummer-1-Album „Das schwarze Einmal Eins“ hatten SM eine verballhornte Version des Lieds der Deutschen aufgenommen. „Wachstum über alles“ setzte die Band dem Verdacht aus, irgendwie „Rechts“ zu sein. „Jeder der uns rechtes Gedankengut nachsagt, hat den Text nicht gelesen“, sagt Lasterbalk. Oder dessen IQ liege unter der Grenze zur Intelligenzminderung.
 Ganz so einfach dürfe es sich die Kunst nicht machen, findet dagegen Musikwissenschaftler Thorsten Hindrichs von der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Das Problem bei Zeilen wie „wie Pestilenz und Ungeziefer / vermehrt sich unser Geld vom Zins / Stillstand heißt Tod - alles muss wachsen / Wie die Marge des Gewinns“ ist für ihn die Uneindeutigkeit. „Das können auch Rechte Widerspruchslos feiern“, meint er. Man könne diesen Text auch antisemitisch lesen. „Mit der Betonung auf ‚Kann‘“, so Hindrichs. Eine Aussage, über die sich streiten lässt. Dass die Nazi-Propaganda Juden mittels ähnlichem Vokabular als geldgeile Wucherer diffamierte, ist zwar nicht von der Hand zu weisen. Dass der Text gerade im Kontext mit der ersten Strophe des Deutschlandliedes bei manchen womöglich ungute Assoziationen weckt, ebensowenig. Der Band deshalb rechte oder gar antisemitische Tendenzen vorwerfen zu wollen, geht aber wohl zu weit. Dass es kaum Überschneidungen zwischen der auf die Romantik des 19. Jahrhunderts fußenden Mittelalter-Szene mit dem Deutschrock-Milieu, wo sich eindeutig uneindeutige Bands wie die umstrittenen Südtiroler Freywild tummeln, räumt schließlich auch Hindrichs ein:"Höchstens auf den ganz großen Festivals."
 Ob die zahlreichen SM-Fans, die der Band auf  ihrer Gratwanderung zwischen leerer Klimperey und wirklicher Kunst bislang die Treue gehalten haben, den oben beschriebenen  Schritt in die harte Realität  mitgehen, darauf will und kann der politische Spielmannsrocker Lasterbalk keine Rücksicht nehmen. „Wenn ich Angst vor meinen Fans hätte oder mir Gedanken darüber machen würde, ob das, was mir richtig und wichtig erscheint, ankommt oder nicht, dann wäre ich bei DSDS besser aufgehoben als bei SM“.
Tatsächlich scheint der Erfolg von „Zirkus Zeitgeist“ vorprogrammiert, verfügt das Album – von der Direktheit der Texte einmal abgesehen – mit seinen gradlinigen und tanzbaren Songs sowie der opulenten historischen Instrumentierung  über alle Attribute, die seinen Vorgänger bei Genre-Fans so erfolgreich gemacht haben.





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