Samstag, 15. Juni 2013

Rock´n´Roll-Volkskongress: La Vela Puerca live im Tollhaus


Schock! Vor dem Tollhaus tummeln sich lauter gepflegt wirkende ältere Herrschaften im Sonntagsstaat: Bügelfalte in der Hose, längsgestreifte Hemden mit halbem Arm und all sowas. Ist heute gar nicht Mittwoch oder haben sich La Vela Puerca inzwischen ganz neue Zielgruppen erschlossen? Ach so, im großen Saal spielt zeitgleich die New Church Band. „Pop und Gospel“, verheißt das Plakat. Uh, ganz fiese Mischung. Aber sollen sie doch, wenn´s selig macht. Ich gehe dann mal lieber nach nebenan, was?
Im Club tobt schon mächtig der (Tanz)Bär. Band und Publikum sind bereits voll in Fahrt – Richtung Hitzetod. Im Raum steht schwitziger Dunst wie im Regenwald des Amazonasbeckens. Sogar beim Herumstehen wird das T-Shirt vom Körpersaft durchweicht – es steht aber gar niemand still. Im Gegenteil: Leute verlieren beim Tanzen schon die Schuhe. Es geht Schlag auf Schlag. Pausen zwischen den Songs? Gibt es nicht. Ufta-ufta-ufta-ufta ohne Unterlass. Doch sind La Vela Puerca keine typischen Ska-Hupfdolen: Statt atemlosem Bläser-Gehupe und hibbeligem Off-Beat-Geschrammel, gibt es bei der Truppe aus Montevideo gleißende Gitarrensoli und straighte Beats. Rockmusik ist das, feurig wie zu Santanas besten Zeiten. Puh, vielleicht bald mal rüber zur New Church Band, bisschen auskühlen.
Aber zum Verschnaufen ist später noch Zeit. Das hier macht zu viel Spaß: Frontmann Sebastián Teysera, der aussieht wie ein mexikanischer Bandit, der Bart struppig, das Hemd ohne Arm, die Tätowierungen ausgebleicht, reckt immer wieder provokatorisch die sonnengebräunte Faust in die Höhe. Der Mann singt mal schwermütig, mal fröhlich, mal kämpferisch. Aber  aus seinem Mund klingt selbst das profanste „Lalala“ wie ein Text von Hanns Eisler.
Da kriegt man glatt Lust, ein paar Autoreifen anzuzünden und die herrschenden zu schmähen. Die Uruguayer sollten wirklich mal ein Konzert auf dem Taksim-Platz in Istanbul geben. Da würden sie die Staatsmacht schwindlig spielen und dem lustfeindlichen Obermufti Erdogan mit ihrer feurigen Brass-Sektion mal so ordentlich den Marsch blasen, dass ihm der Stalin-Schnauzer wackelt. Wäre das nicht ein toller Ulk?
Vielleicht würde das bei dem knüppelfreudigen Premier ein wenig mehr Verständnis für die Jugendbewegung im Allgemeinen und die Frauenbewegung im Besonderen wecken. Die lässt sich hier nämlich besonders gut studieren: schlängeln, ringeln, schlingeln, wiegen, springen, taumeln, torkeln, trudeln. All das gehört zum Anarcho-Zirkeltraining. Eine Dame tritt im Überschwang sogar das Bier des Rezensenten um. Ein Lächeln, ein Schulterzucken – kein Ersatzbier. Tsetsetse, also das hätte es bei der New Church Band nicht gegeben!
Auch auf der Bühne wird die Lage allmählich unübersichtlich: Der Sänger wechselt ans Schlagzeug, der Percussionist an den Gesang, dann der Sänger wieder an die Gitarre, ein weiterer Sänger kommt hinzu und plötzlich gibt es drei Gitarristen – aber ganz am Ende verbeugen sich nur sieben Leute. Ist das die Hitze, die Dehydratation? Was solls, ein Rock-Konzert ist schließlich kein Bibel- und Erholungsheim. Und das Publikum? Klatscht zum Finale dieses Rock´n´Roll-Volkskongresses, erfüllt vom revolutionären Geist Simón Bolívars, frenetisch Beifall.


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