Schock! Vor dem Tollhaus tummeln sich lauter gepflegt wirkende ältere Herrschaften im Sonntagsstaat: Bügelfalte in der Hose, längsgestreifte Hemden mit halbem Arm und all sowas. Ist heute gar nicht Mittwoch oder haben sich La Vela Puerca inzwischen ganz neue Zielgruppen erschlossen? Ach so, im großen Saal spielt zeitgleich die New Church Band. „Pop und Gospel“, verheißt das Plakat. Uh, ganz fiese Mischung. Aber sollen sie doch, wenn´s selig macht. Ich gehe dann mal lieber nach nebenan, was?
Im Club tobt schon mächtig der (Tanz)Bär. Band und
Publikum sind bereits voll in Fahrt – Richtung Hitzetod. Im Raum steht
schwitziger Dunst wie im Regenwald des Amazonasbeckens. Sogar beim Herumstehen
wird das T-Shirt vom Körpersaft durchweicht – es steht aber gar niemand still.
Im Gegenteil: Leute verlieren beim Tanzen schon die Schuhe. Es geht Schlag auf
Schlag. Pausen zwischen den Songs? Gibt es nicht. Ufta-ufta-ufta-ufta ohne
Unterlass. Doch sind La Vela Puerca keine typischen Ska-Hupfdolen: Statt
atemlosem Bläser-Gehupe und hibbeligem Off-Beat-Geschrammel, gibt es bei der
Truppe aus Montevideo gleißende Gitarrensoli und straighte Beats. Rockmusik ist
das, feurig wie zu Santanas besten Zeiten. Puh, vielleicht bald mal rüber zur
New Church Band, bisschen auskühlen.
Aber zum Verschnaufen ist später noch Zeit. Das hier
macht zu viel Spaß: Frontmann Sebastián Teysera, der aussieht wie ein
mexikanischer Bandit, der Bart struppig, das Hemd ohne Arm, die Tätowierungen
ausgebleicht, reckt immer wieder provokatorisch die sonnengebräunte Faust in
die Höhe. Der Mann singt mal schwermütig, mal fröhlich, mal kämpferisch.
Aber aus seinem Mund klingt selbst das
profanste „Lalala“ wie ein Text von Hanns Eisler.
Da kriegt man glatt Lust, ein paar Autoreifen
anzuzünden und die herrschenden zu schmähen. Die Uruguayer sollten wirklich mal
ein Konzert auf dem Taksim-Platz in Istanbul geben. Da würden sie die
Staatsmacht schwindlig spielen und dem lustfeindlichen Obermufti Erdogan mit
ihrer feurigen Brass-Sektion mal so ordentlich den Marsch blasen, dass ihm der
Stalin-Schnauzer wackelt. Wäre das nicht ein toller Ulk?
Vielleicht würde das bei dem knüppelfreudigen
Premier ein wenig mehr Verständnis für die Jugendbewegung im Allgemeinen und
die Frauenbewegung im Besonderen wecken. Die lässt sich hier nämlich besonders
gut studieren: schlängeln, ringeln, schlingeln, wiegen, springen, taumeln,
torkeln, trudeln. All das gehört zum Anarcho-Zirkeltraining. Eine Dame tritt im
Überschwang sogar das Bier des Rezensenten um. Ein Lächeln, ein Schulterzucken
– kein Ersatzbier. Tsetsetse, also das hätte es bei der New Church Band nicht
gegeben!
Auch auf der Bühne wird die Lage allmählich
unübersichtlich: Der Sänger wechselt ans Schlagzeug, der Percussionist an den
Gesang, dann der Sänger wieder an die Gitarre, ein weiterer Sänger kommt hinzu
und plötzlich gibt es drei Gitarristen – aber ganz am Ende verbeugen sich nur
sieben Leute. Ist das die Hitze, die Dehydratation? Was solls, ein Rock-Konzert
ist schließlich kein Bibel- und Erholungsheim. Und das Publikum? Klatscht zum
Finale dieses Rock´n´Roll-Volkskongresses, erfüllt vom revolutionären Geist
Simón Bolívars, frenetisch Beifall.
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